"Superheld"
Auf dem Weg zur Arbeit sehe ich ihn. Jeden Morgen. Ich fahre ins Büro, er ist zu Fuß unterwegs. Manchmal begegnen wir uns schon am Kreisverkehr, an dem ich warten muß, manchmal an der Ampel, manchmal an der Tankstelle. Ob er mich morgens im Auto erkennt und weiß, dass es gestern auch so war´? Ich weiß es nicht. Ich erkenne ihn immer wieder. Warum? Er trägt ein Kostüm, eine Verkleidung, jeden Tag wieder, einen blauen Anzug mit Kaputze, bunt bedruckt, Turnschuhe dazu. Er ist ein Superheld. Er beobachtet seine Welt, immer auf der Suche nach dem nächsten Schauplatz für ein mögliches Verbrechen, dass es zu verhindern gilt. Immer auf der Suche nach Ungerechtigkeit - so scheint es mir jedenfalls. Mit unbeugsamem und mutigem Blick sieht er mir manchmal ins Auto, und jedesmal muss ich zu ihm zurücksehen. Große wache Augen blicken aus einem starren und Gesicht, meist ohne jede erkennbare Miene. Und dann ist da sie. Sie ist immer dabei. Aber sie hat mich noch nie gesehen, so wie sie vielleicht alles andere um sich noch nie gesehen hat. Sie sieht auf ihr Handy. Jeden Morgen geht sie den Weg zum Kindergarten wie in Trance, kurzatmig unter der Last ihres Körpers, in der einen Hand der Bildschirm, an der anderen ein kleiner und dünner Superheld. Der Gegensatz beschäftigt mich seit Tagen immer wieder, und immer wenn ich die beiden sehe, denke ich wieder daran. Der kleine Mann mit den großen Augen, den großen Träumen und dem blauen Anzug, und daneben sie. Hat sie sich selbst vergessen? Hat sie verlernt, aufzusehen? Hat sie bemerkt, dass der kleine Mann an ihrer Hand in Wirklichkeit sie über die Straße führt? Manchmal möchte ich aussteigen und sie ansprechen. Manchmal möchte ich sie wachrütteln, manchmal fahre ich mit einem traurigen Gefühl weiter. Manchmal wünsche ich ihr, dass sie aufschreckt und den Blick wieder aufrichtet, manchmal wünsche ich mir ein bischen was von seinem unvoreingenommenen Blick. Aber immer wünsche ich ihm das Eine: Echte Superkräfte, mit denen er irgendwann tatsächlich zu fliegen beginnt. Sie wird es ihm wohl nicht beibringen können.